László Moholy-Nagys Vision von "Design as an Attitude" im heutigen kommerziellen Produktdesign
by Christa CarstensenLászló Moholy-Nagy beschreibt in seinem postum veröffentlichten Buch Vision in Motion seine Vision von Design, Kunst, Technologie und Lehre in einem gesellschaftlichen und sozialen Kontext. Moholy-Nagy sieht im Design ein weltverbesserndes Potenzial (vgl. Rawsthorn, 2018, S. 6). Mit dem zusammenfassenden Satz „Designing is not a profession but an attitude“ beschreibt er sein Verständnis von einem Design das Haltung hat. In seiner Vorstellung von zukünftigem Design soll die Arbeitsweise von Designer:innen eine Transformation erleben - statt einer Spezialisierung auf eine bestimmte Funktion verlangt Moholy-Nagy von Designer:innen ein weitsichtigen Blick sowie innovative und kreative Lösungen, die die Bedürfnisse von Gesellschaft und Individuen in den Fokus stellen (vgl. Rawsthorn, 2018, S. 6f).
Diese von László Moholy-Nagy in den 1940er formulierte Vision scheint heute aktueller denn je. Als unabdingbare Reaktion auf den verschwenderischen Umgang mit Ressourcen, riesigen Müllteppichen aus Plastik auf dem Meer und den zunehmend stärkeren Auswirkungen der Klimakrise sind Themen wie Ressourcenaufwand, Reparaturmöglichkeiten, Trennbarkeit von Materialien und Recyclebarkeit für Designer:innen und in der Designlehre sehr präsent. Alice Rawsthorn führt in ihrem Buch Design as an Attitude von 2018 zahlreiche Beispiele auf, die die von Moholy-Nagy prognostizierte Transformation von Design hin zu einer vielfältiger ausgelegten und weltverbessernden Disziplin mit mehr Sinnhaftigkeit und Weitsicht belegen. Von The Ocean Cleanup, einem niederländischen non-profit Projekt, das das Problem der Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll angeht (vgl. Rawsthorn, 2018, S. 11f), über DoctHERs, einem Telemedizin Projekt von Sehat Kahani, das Pakistanischen Frauen die Möglichkeit gibt, von weiblichen Ärztinnen behandelt zu werden (vgl. Rawsthorn, 2018, S.12), bis zu Cardiopad von Arthur Zang, das ein Tablet zu einem mobilen Herzmonitor macht, mit dem Krankenschwestern aus ländlichen Gegenden Patienten untersuchen und direkt mit einem Krankenhaus über die Behandlung kommunizieren können (vgl. Rawsthorn, 2018, S.24). Diese Projekte zeigen anschaulich, dass Design mehr sein kann als das Gestalten von kommerziellen Produkten. Mit Design können innovative Lösungen und Systeme für reale Probleme von Mensch, Gesellschaft und Umwelt geschaffen werden. Moholy-Nagy sieht im Design das Potenzial ein Mittel frei von kommerziellen Zwecken zu sein, mit dem effizient auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert werden kann (vgl. Rawsthorn, 2018, S.9).
Rawsthorn ergänzt, dass aber nicht jeder Designer/ jede Designerin sich dem „attitudinal Design“ nach Moholy-Nagy verschreiben wird oder verschreiben sollte. So würden viele Designer:innen auch weiterhin in spezialisierten Designdisziplinen kommerziell arbeiten. Wobei einige an kommerziellen Projekten mitarbeiten würden, die positiv auf soziale und ökologische Probleme einwirken sollen (vgl. Rawsthorn, 2018, S. 11). Dieses Zusammenstoßen von konventionellem, kommerziellen Gestalten von Produkten und Design das in einem gesellschaftlichen und sozialen Kontext Haltung zeigt, schafft ebenso ein spannendes Potenzial für Verbesserungen. Doch wie präsent ist das von Moholy-Nagy beschriebene Konzept von Design, dass sein weltverbesserndes Potenzial ausschöpft im heutigen kommerziellen Design von Produkten?
Ein Anhaltspunkt für die Beantwortung dieser Frage, bietet ein Vergleich der im Design allseits bekannten Thesen für gutes Design von Dieter Rams mit den im Jahr 2021 von zahlreiche Design-Magazinen veröffentlichen 10 Geboten für ein gutes Produkt von Stefan Diez. Die 10 Gebote von Stefan Diez knüpfen formal an die in den 1970er Jahren formulierten Thesen für gutes Design von Dieter Rams an. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Ansätze jedoch deutlich voneinander. Während Rams mit seinen Thesen vor allem Leitlinien für die formale Gestaltung formuliert, stellen die 10 Thesen von Stefan Diez Anforderungen an die Gestaltung von Produkten, die Teil einer Kreislaufwirtschaft sind.
Zum Beispiel mit den Thesen „Gutes Design macht ein Produkt brauchbar“, „Gutes Design ist ästhetisch“, „Gutes Design macht ein Produkt verständlich“ „Gutes Design ist unaufdringlich“ und „Gutes Design ist ehrlich“ beschreibt Rams Gestaltungskriterien, die die ästhetische Gestaltung im Sinne der Nutzung eines Produktes in den Fokus stellen. Ein nach Rams Thesen gestaltetes Produkt bedarf keiner weiteren Erklärung oder Anleitung. Das Design folgt einzig dem Zweck und den Funktionen des Produktes (vgl. Rams, 2005, S.6f). Auch wenn Rams hier nicht nur von einer simplen und reinen Ästhetik spricht, sondern den/die Nutzer:in und die Interaktion mit dem designten Produkt ins Zentrum stellt, findet sich in diesen Thesen wenig von dem weltverbessernden Potenzial des Design as an Attitude wie es Moholy-Nagy vorschwebte.
„Gutes Design ist langlebig. Es hat nichts Modisches, das schnell veraltet wirkt. Damit unterscheiden sich gut gestaltete Produkte tiefgreifend von kurzlebigen Trivial-Produkten einer Wegwerfgesellschaft, für die es heute keine Berechtigung mehr gibt.“ (Rams, 2005, S.7)
Diese siebte der zehn Thesen von Dieter Rams, in der es vor allem um zeitlose Gestaltung geht, beinhaltet eine deutliche Kritik an kurzlebigen Konsumprodukten. Mit der neunten These „Gutes Design ist umweltfreundlich“ fordert Rams, dass gutes Design „seinen Beitrag zur Erhaltung der Umwelt und Schonung der Ressourcen leisten“ (ebd) muss. Im nächsten Satz setzt er die „visuelle Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt“ (ebd) mit der „physischen“ gleich. Auch wenn sich an dieser Stelle erahnen lässt, dass Rams Design nicht allein im engen Kontext des Produktes und seiner Nutzung betrachtet, lässt sich doch fragen, ob Moholy-Nagys Konzept von „attitudinal Design“ in den Thesen von Rams zu finden ist. Rams Idee von gutem Design enthält keine Ansätze, die Design als kreative und innovative Lösungschance für größere soziale, ökonomische oder ökologische Probleme versteht.
Die zehn Gebote von Stefan Diez hingegen setzen Produktion, Nutzung und Wiederverwertung eines Produkts in einen größeren ökologischen und sozialen Kontext. Er verlangt, dass Produkte möglichst lang und von vielen genutzt werden. Das kann möglich gemacht werden, durch eine Anpassbarkeit sowie die Reparierbarkeit des Produktes oder durch eine Mietkonzept, bei dem Produkte nur temporär genutzt werden oder von mehreren geteilt werden können. Ein weiterer Aspekt, den Stefan Diez nennt, ist, dass Produkte, die als System gestaltet werden, eine längere Gültigkeit haben. Einzelne Elemente können von Herstellern entsprechend der neusten Entwicklungen und Bedürfnisse aktualisiert werden und in das bestehende System integriert werden. So kann die Lebensdauer eines Produktes deutlich verlängert werden.
Das vierte Gebot lautet: „Verwende Materialien, die einem Materialkreislauf entstammen oder die nachwachsen.“ Diez verlangt von Designer:innen ein Bewusstsein für den Ursprung verwendeter Materialien und wie sich Materialien während der Nutzung verhalten. „Materialien dürfen sich bei der Benutzung nicht verflüchtigen oder abreiben und sind generell nicht toxisch.“ Auch die sortenreine Trennbarkeit von Materialien ist ein Teilaspekt dieses Gebotes.
Darüber hinaus thematisiert Diez auch den Energieaufwand von Herstellung, Gebrauch und Recycling sowie den Transport von Produkten. Ein nach Diez gutes Produkt soll so designt sein, dass der Energieaufwand über alle Lebensphasen eines Produktes hinweg möglichst gering bleibt. Gleichzeitig sollen Transportwege kurz sein und das Produkt für einen kompakten und platzsparenden Transport optimiert sein.
Das siebte Gebot von Diez „Ein gutes Produkt ist innovativ und faszinierend“ ähnelt der ersten These von Dieter Rams „Gutes Design ist innovativ“. Während Rams den innovativen Charakter guten Designs jedoch darin erkennt, dass das Design dem aktuellen Stand technologischer Entwicklung entspricht und sich aus ihr entwickelt, führt Diez nicht weiter aus, worauf er sich mit dem Innovationsgedanken genau bezieht. Er fasst unter diesem Punkt vielmehr einige der Thesen Rams zusammen. „Es darf komplex, aber nicht kompliziert sein“ findet man zum Beispiel in Rams zweiter These wieder, in der er beschreibt, dass gutes Design die Brauchbarkeit eines Produktes optimiert. Die Forderung „Produkte sollen durchgehende schlüssig und ehrlich gestaltet sein“ finden wir in Rams sechster These „Gutes Design ist ehrlich“ und in seiner achten These „Gutes Design ist konsequent bis ins letzte Detail“ wieder.
Interessant ist ein Vergleich der beiden letzten Thesen von Diez und Rams. Während Rams mit der These „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich. Zurück zum Puren, zum Einfachen.“(Rams, 2005, S.7) abschließt, beendet Diez seine Gebote mit dem Gebot „Ein gutes Produkt ist so wenig Produkt wie möglich. Es besteht aus so wenig Material wie nötig oder ist durch einen (digitalen) Service ersetzt worden.“ Obwohl diese beiden abschließenden Aspekte ähnlich formuliert sind, ist doch eine unterschiedliche Intention zu erkennen. Bei Rams wird noch einmal sehr deutlich präsentiert, dass seine zehn Thesen sein Verständnis von guter Gestaltung im formalen und ästhetischen Sinn widerspiegeln. Diez hingegen schließt seine Gebote damit ab, die Materialität von Produkten und die Sinnhaftigkeit eines Produktes als Konsumgut für einzelne Konsumenten zu hinterfragen. Auch wenn Diez explizit beschreibt, was ein gutes Produkt ist und nicht, wie Rams, was gutes Design ist, lässt sich an dieser Stelle erkennen, dass Diez die Aufgabe des Designers/der Designerin als etwas versteht, das über das Gestalten eines Produktes hinausgeht. Diez fordert Designer:innen mit seinen Geboten dazu auf, den ganzen Lebenszyklus von Produkten, sowie Systeme und Services zu konzipieren und zu entwerfen.
Dieter Rams verfasste seine Thesen drei Jahrzehnte nachdem Moholy-Nagy seine Vision von „Designing is not a profession but an attitude“ formulierte. Stefan Diez zehn Gebote erschienen nochmal fast 50 Jahre später. Die Betrachtung der Leitlinien für Designer:innen von damals und von heute lässt darauf schließen, dass sich das Verständnis von Haltung im Design verändert und der Idee von Moholy-Nagy immer näher kommt. Während bei Rams eine starke Haltung zu Ästhetik und Funktionalität zu erkennen ist, beweist Diez als Designer Haltung in Bezug auf soziale und ökologische Umstände. Auch wenn Moholy-Nagy das große weltverbessernde Potenzial von Design eher abseits des kommerziellen Designs und vielmehr im Zusammenspiel mit anderen Disziplinen und als Mittel für kreative Lösungsansätze im größeren Sinne verstand, kann, sollte und wird eben diese Potenzial auch zunehmend im kommerziellen Bereich genutzt.
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Links:
Literatur:
Rawsthorn, A. (2018). Designing as an Attitude. Ringier Kunstverlag AG
Rams, D. (2005) Less but better - Weniger, aber besser. Hamburg. Jo Klatt Design+Design (Erstausgabe erschienen 1995)